Studium EKIW ®

Lichtblick Nr. 11 (November 2006)

Zuhören lernen

Kenneth Wapnick

Kommunikationsversagen ist eine landläufige Ursache von Unzufriedenheit in Beziehungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine Flut von Therapien, Trainings und Methoden aller Art entstanden mit dem Ziel, Paaren, Familien oder auch Leuten in Geschäftsbeziehungen beizubringen, wie man zuhört. Diese Maßnahmen haben Menschen in schwierigen Beziehungen – und wer in unserer Welt hat keine schwierigen Beziehungen – so erfolgreich angesprochen, dass sich ein ganzer Wirtschaftszweig entwickelt hat, der die gesamte Bandbreite professioneller und weniger professioneller Techniken abdeckt. Auf die eine oder andere Art versuchen sie alle, Menschen zu lehren, wie man sich gegenseitig zuhört und das wahrnimmt, was kommuniziert wird.

Dieses Training im Zuhören, um es einmal so zu nennen, kann sicher die zwischenmenschliche Kommunikation erleichtern, indem jeder Partner lernt, die Gefühle und Erfahrungen des Anderen besser zu respektieren. Doch fast immer geht es nicht nur darum, die Gefühle des anderen zu achten, sondern auch darum, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Solche Ansätze können kurzfristig wirksam sein. Langfristig laufen sie jedoch Gefahr, zu Kompromissen zu führen, bei denen die Beteiligten vor der Notwendigkeit stehen, einen Teil ihrer Bedürfnisse und Wünsche zu opfern, um die Beziehung aufrechtzuerhalten. Solch ein Handel muss, wenn auch unbewusst, Groll wecken, weil die Beziehungspartner nie das erhalten, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Und wo stummer Groll ist, folgt zwangsläufig die Projektion. Ziemlich zu Anfang des Textbuchs beschreibt Jesus diese konfliktbeladene Situation, in der

Denken und Handeln nicht in Einklang miteinander [sind], was eine Situation zur Folge hat, in der du etwas tust, das du nicht wirklich tun willst. Das löst ein Gefühl von Zwang aus, welches gewöhnlich Wut erzeugt, und darauf folgt mit einiger Wahrscheinlichkeit Projektion (T-2.VI.5:6-7).

Wahre Kommunikation hingegen, wie sie im Kurs gelehrt wird, zielt darauf ab, alle daran Beteiligten von der Last der Bedürfnisbefriedigung zu befreien. Auch Jesus äußert die gleiche Unzufriedenheit mit unserer Fehlkommunikation untereinander, und er bietet uns seine einzigartige Schulung in Vergebung an. In diesem Artikel möchte ich erörtern, was Kommunikation bedeutet und insbesondere was es heißt, sich gegenseitig wirklich zuzuhören.

Ein wichtiger Ausgangspunkt ist, dass wir andere unmöglich hören können, solange wir etwas von ihnen wollen. Der Grund liegt bei näherem Nachdenken auf der Hand. Unsere drängenden Bedürfnisse verlangen nach Befriedigung ungeachtet der äußeren Umstände. Die Erziehung in Sozialverhalten, die wir alle genossen haben, erlaubt uns zwar gewöhnlich einen Aufschub der Befriedigung, aber nicht ohne ein Gefühl des Opferns, wie oben im Zitat angeklungen ist. Unser unbewusster Wunsch nach Befriedigung sorgt dafür, dass wir alle Beziehungen, in denen wir uns gerade befinden, als gegnerisch erfahren, ganz gleich, welche Form sie haben und wie unbewusst solche Wahrnehmungen sein mögen. Daher sind wir nicht wirklich für andere da, sondern nur für das, was unsere Bedürfnisse aus ihnen machen. Kursschüler dürften diese Aussagen wiedererkennen, weil sie den Kern der Lehren Jesu über besondere Beziehungen bilden, jene Ersatzgebilde für unsere Beziehung zu Gott, unserer Quelle, in der es keine Bedürfnisse gibt:

Du, der du Frieden willst, kannst ihn nur durch vollständige Vergebung finden … Während in Gottes Schöpfung kein Mangel existiert, tritt er in dem, was du gemacht hast, ganz klar zutage … Bis zur »Trennung« – und genau das bedeutet der »Sündenfall« – hat nichts gefehlt. Da gab es überhaupt keine Bedürfnisse. Bedürfnisse entstehen nur, wenn du dir selbst etwas entziehst. Du handelst der jeweiligen Rangordnung der Bedürfnisse zufolge, die du aufstellst. Diese hängt wiederum von deiner Wahrnehmung davon ab, was du bist (T-1.VI.1:1,3,6-10).

Den Diktaten unseres Ego in Bezug auf Mangel und Entzug folgend, streben wir nach Bedürfnisbefriedigung um welchen Preis auch immer, wobei wir hoffen, dass ein anderer ihn zahlen wird. So trachten wir danach, das Glück eines anderen zu opfern, um die Befriedigung zu bekommen, die unser Ego sich wünscht. Wie können wir dem anderen dann zuhören? Wie seinen Klageruf nach Befreiung vom Schmerz vernehmen? Wie in ihm das Echo unseres eigenen Rufes hören? Jesus möchte, dass wir uns diese Fragen stellen, damit wir seine Antwort hören können. Wenn wir den Ruf eines anderen beantworten, wird auch unser eigener beantwortet:

Höre einen Bruder um Hilfe rufen und antworte ihm. Gott ist es, dem du Antwort gibst, denn du hast ihn angerufen. Es gibt keinen anderen Weg, seine Stimme zu vernehmen. Es gibt keinen anderen Weg, seinen Sohn zu suchen. Es gibt keinen anderen Weg, dein Selbst zu finden (P-2.V.8:4-7).

Aber ich habe bereits vorgegriffen, denn zunächst müssen wir verstehen, was es denn ist, was wir hören wollen. Kehren wir also an den Anfang zurück, der auf den wahren Anfang zu folgen schien. In dem ontologischen Augenblick, in dem wir glaubten, wir hätten uns von unserem Schöpfer und unserer Quelle getrennt, haben wir uns auch vom Lied der Schöpfung getrennt, das

die eine Stimme [ist], in die sich der Schöpfer und die Schöpfung teilen; das Lied, das der Sohn dem Vater singt, der den Dank, den es ihm anbietet, dem Sohn zurückgibt. Endlos ist die Harmonie, und endlos auch die frohe Eintracht der Liebe, die sie einander ewig geben. Und darin wird die Schöpfung ausgedehnt … Die Liebe, die sie miteinander teilen, ist das, was jedes Gebet in Ewigkeit sein wird, wenn die Zeit vorbei ist. Denn das war es auch, bevor die Zeit zu sein schien (L-1.Einl.1: 2-4, 7-8).

Doch hatte es tatsächlich den Anschein, dass es die Zeit gab und die Note von Gottes Sohn im Lied des Himmels ausgelassen wurde (T-26.V.5:4). In diesem einen unheiligen Augenblick wurden wir nicht nur für das Lied des Himmels taub, sondern überdies auch für die Erinnerung des Heiligen Geistes daran. So geriet es in Vergessenheit, doch seine Melodie blieb bei uns, trotz der höchst erfinderischen Versuche unseres Ego, es in der Vergessenheit zu halten. Kursschülern dürfte die folgende inspirierende Stelle der Hoffnung und Verheißung vertraut sein:

Horch! Vielleicht erhaschst du den Hauch eines Urzustands, den du nicht ganz vergessen hast … Nicht das vollständige Lied ist bei dir geblieben, nein, nur der kleinste Fetzen einer Melodie … Und dieser kleine Fetzen nur erinnert dich daran, wie lieblich dieses Lied war, wie herrlich die Umgebung, wo du es gehört hast, und wie sehr du jene liebtest, die da waren und es mit dir hörten … Horch und sieh, ob du dich an ein altes Lied erinnerst, das du vor so langer Zeit gekannt hast und das dir lieber war und teurer als irgendeine Melodie, die du dich selbst seither lieb zu haben lehrtest (T-21.I.6;7:5).

Uns an das uralte Lied der Liebe und des Einsseins zu erinnern hätte jedoch bedeutet, unser neu komponiertes Lied der Besonderheit und Trennung zu vergessen, ein »Opfer«, zu dem wir nicht bereit waren. Und so wurde die Kommunikation zerstört, und die Dissonanz trat an die Stelle der Harmonie:

Die direkte Kommunikation war abgebrochen, weil du eine andere Stimme gemacht hattest (T-5.II.5:7).

Die Trennung war kein Verlust der Vollkommenheit, sondern ein Versagen der Kommunikation. Eine schroffe und schrille Form der Kommunikation entstand als Stimme des Ego (T-6.IV.12:5-6).

Mit der Trennung zerbrach die Kommunikation mit unserer Quelle; ihr vollkommener Fluss wurde unterbrochen und durch das heisere Geschrei des Ego ersetzt. In unserem Wahnsinn haben wir uns lieber an dieses Lied der Trennung und Besonderheit gehalten und uns entschieden, die Melodie des Heiligen Geistes – den vergessenen Gesang – nicht zu hören. Und dabei ist es durch die Riesenillusion des Ego von Raum und Zeit hindurch geblieben (Ü-I.158.4:1). Doch wenn Ideen ihre Quelle nicht verlassen, wie Jesus uns wiederholt in Erinnerung ruft, dann ist die ursprüngliche Entscheidung, nicht auf den Heiligen Geist zu hören und seine Melodie des Friedens nicht zu vernehmen, immer noch bei uns. Im Textbuch finden wir folgende Aussage über die Zeit:

Das winzige Sekündchen Zeit, in dem der erste Fehler gemacht wurde – und alle anderen in diesem einen Fehler –, enthielt auch die Berichtigung für diesen einen und für alle, die innerhalb des ersten kamen (T-26.V.3:5).

Wir durchleben also – »jeden Tag – jede Minute eines jeden Tages und jeden Augenblick, den jegliche Minute birgt« (T-26.V.13:1) – erneut unsere ursprüngliche Entscheidung, nicht zuzuhören. Es sollte daher nicht verwundern, dass alle Menschen solche ungeheuren Kommunikationsprobleme haben: die Schwierigkeit, jemandem ohne Hintergedanken zuzuhören, die die Fähigkeit trüben, das Gesagte wirklich zu hören. Ich möchte einmal eine Analogie aus der Musik heranziehen. Große Musiker haben gesagt, das Beste an der Musik sei nicht in den Tönen zu finden (Gustav Mahler); der Dirigent solle auf die Musik hinter den Tönen hören (Wilhelm Furtwängler); und die wahre Musik sei die Stille zwischen den Tönen (Isaac Stern). Richard Wagner forderte die Dirigenten auf, dem Melos des Werkes zu lauschen. Das ist das griechische Wort für »Lied«, und er meinte damit die innere Melodie der Komposition, ohne die das Werk »als eine seelenlose Schriftmusik« dirigiert würde.

Um mit der Terminologie des Kurses zu sprechen: Man muss auf den Inhalt der Musik hinter der Form hören. Dementsprechend sollten wir zulassen, dass unsere Aufmerksamkeit über unsere belanglosen Urteile und Fehlwahrnehmungen hinausgeht und sich auf den zugrunde liegenden Inhalt der Liebe oder des Rufes nach Liebe in jedem von uns richtet. Der Psychoanalytiker Theodor Reik, den Freud für einen seiner begabtesten Schüler hielt, gibt in seinem klassischen Werk Hören mit dem dritten Ohr ein wunderbares Beispiel des Zuhörens. Ich gebe die Geschichte hier aus dem Gedächtnis wieder. Er berichtete von einer Patientin, die bei ihm regelmäßig zur Therapie kam. Sie machte eine Bemerkung über ein Buch, das verkehrt herum in Reiks Bücherschrank stand. Ohne dass ein weiteres Wort fiel, fragte der bekannte Analytiker: »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie eine Abtreibung hatten?« Mit seiner Frage traf Reik den Nagel auf den Kopf, und in seinem Buch erläutert er, wie er aus der Bemerkung der Patientin zu seiner überraschenden Schlussfolgerung gelangte. Es geht nicht darum, dass wir alle solche klugen Einsichten wie dieser Analytiker haben, aber es ist wichtig, mit dem »dritten Ohr« zu hören, das nur frei ist, wenn wir unser Bedürfnis außer Kraft setzen, Situationen zu bewerten und andere zu beurteilen – und das immer auf der Grundlage unserer eigenen vermeintlichen Bedürfnisse und dringlichen persönlichen Interessen.

Es ist ein therapeutisches Gesetz, dass man nicht verstehen kann, wenn man urteilt. Urteilen ist der Projektionsschatten der Trennung, während Verstehen das Licht der Kommunikation widerspiegelt: das Lied des Gebets, das Vater und Sohn, Schöpfer und Geschöpf, Ursache und Wirkung miteinander vereinigt. Man kann daher sagen, dass zuhören lernen bedeutet, dass wir lernen, das Urteilen aufzugeben. In der Schrift »Psychotherapie: Zweck, Prozess und Praxis« in den Die Ergänzungen zu Ein Kurs in Wundern erklärt Jesus das Aufgeben des Urteils zur einzigen Bedingung für eine erfolgreiche Psychotherapie, denn damit wird das Abwehrsystem des Ego, das auf der Verwechslung von Form und Inhalt beruht, aufgehoben. Das Aufgeben des Urteils erlaubt dem Therapeuten, dem Patienten zuzuhören und seine Bitte zu vernehmen, er möge im Hinblick auf die Trennung widerlegt werden. Wenn die Schranken des Urteils losgelassen werden, die die Kommunikation behindern, ist das Ego aufgehoben. Der Therapeut schaut durch die Formen des Problems hindurch auf den einen Inhalt der Trennung und der getrennten Interessen. Heilung geschieht, wenn der Therapeut dem Patienten die gemeinsamen Interessen von Gottes einem Sohn spiegelt: das Hören der vergessenen Melodie und die Erinnerung an die Liebe, die unsere einzige Quelle ist. Daher werden wir gelehrt:

In ebendem Augenblick, da der Therapeut vergisst, den Patienten zu beurteilen, findet Heilung statt … weil man erst dann verstehen kann, dass es keine Rangordnung der Schwierigkeit beim Heilen gibt (P-3.II.6:1;7:1).

Was muss der Lehrer tun, um das Lernen sicherzustellen? Was muss der Therapeut tun, um Heilung herbeizuführen? Nur eines: dasselbe, was die Erlösung jedem abverlangt. Jeder muss ein Ziel mit einem anderen teilen und dabei jedes Gefühl von getrennten Interessen verlieren. Nur auf diese Art ist es möglich, die engen Grenzen zu transzendieren, die das Ego dem Selbst auferlegt. Nur auf diese Art können Lehrer und Schüler, Therapeut und Patient, du und ich die Sühne akzeptieren und lernen, sie zu geben, wie sie empfangen wurde (P-2.II.8).

Um auf unsere frühere Aussage zurückzukommen: Solange unser persönliches Bedürfnis – das Bestehen auf Besonderheit – die Beziehung zu einem Menschen färbt, ist Urteilen unausweichlich. Unsere getrennten Interessen werden zur Wirklichkeit und erzeugen die Forderung, dass die Bedürfnisse befriedigt werden. Die Beziehung hat jetzt nur die Funktion, diese Forderungen zu erfüllen. Sie wird zum Tempel des Ego, an dessen Schrein der Besonderheit wir mit unseren Opfergaben des Urteils und der besonderen Liebe treten; und Letztere ist, wie es im Kurs heißt, nur ein dünner Schleier über dem Hass. Der andere Mensch ist hinter den Wolken des Mangels und Entzugs verschwunden, und wir sehen und hören nicht länger.

Ohne Urteil hingegen kann man gar nicht anders als zuhören, ohne dass sich die Bedürfnisse der eigenen Besonderheit und die Forderung nach Befriedigung aufdrängen. Man ist still, man tut ganz ruhig gar nichts außer zu schauen, zu warten und nicht zu urteilen (Ü-II.1.4:1,3). Was man dann hört, ist eins von zwei Liedern: das Lied, das die Liebe spiegelt, oder das Lied, das nach Liebe ruft. In beiden Fällen ist unsere Reaktion liebevoll. Doch um diese Lieder anstelle des Ego-Lieds der Besonderheit und des Hasses zu hören, müssen wir innerlich ruhig sein und ohne Bedürfnisse zu unserem Bruder kommen. Welch besseres Gebet in unserem Herzen und Geist gäbe es als die folgende Stelle aus dem Übungsbuch, in der es darum geht, wie wir uns Gott nähern, in unserem Fall: wie wir uns Gottes Sohn, CHRISTUS, und unserem Selbst nähern:

Tu einfach dies: Sei still, und lege alle Gedanken darüber, was du bist und was Christus ist, weg, alle Konzepte über die Welt, die du gelernt hast, alle Bilder, die du von dir selber hast. Mach deinen Geist von allem leer, was er für wahr oder falsch, gut oder schlecht hält, von jedem Gedanken, den er als würdig beurteilt, und allen Vorstellungen, deren er sich schämt. Halte an nichts fest. Bringe nicht einen Gedanken mit, den die Vergangenheit gelehrt hat, noch eine Überzeugung, die du jemals gelernt hast von irgendetwas. Vergiss diese Welt, vergiss diesen Kurs, und komm mit völlig leeren Händen zu deinem Selbst (leicht abgewandelt aus Ü-I.189.7).

»Mit nichts in unseren Händen, woran wir uns klammern könnten, mit erhobenem Herzen und einem horchenden Geist« (Ü-I.140.12:1) setzen wir uns zu unserem Bruder und hören zu, so wie Jesus seine Psychotherapeuten und uns alle in unseren individuellen Interaktionen anleitet:

… kein guter Lehrer [benutzt] für jeden Schüler ein und denselben Ansatz. Im Gegenteil, er hört einem jeden geduldig zu und lässt ihn seinen eigenen Lehrplan formulieren, nicht das Ziel des Lehrplans, sondern wie er am besten das Ziel erreichen kann, das der Plan ihm setzt … Es gibt etwas in ihm, das es dir sagen wird, wenn du zuhörst. Und das ist die Antwort: Höre zu. Fordere nicht, entscheide nicht, opfere nicht. Höre zu. Was du hörst, ist wahr (P-2.II.7:2-3; P-3.I.2:3-7; Kursive von mir).

Wenn wir zu unserem Bruder ohne Bedürfnisse gekommen sind, die unsere Wahrnehmung verzerren, verstehen wir, dass das, was wie Bösartigkeit aussieht, nur Angst ist (T-3.I.4:2): die Angst des Ego vor der Liebe des Heiligen Geistes. In der Gegenwart seines tonlosen Gesangs müssen die Geräusche unserer getrennten und besonderen Identität verstummen. In dem Maße, in dem wir an diese Identität glauben, fürchten wir die Melodie der Vergebung, die uns unmittelbar das Lied zu Bewusstsein bringt, das unser Selbst immer noch seiner Quelle singt. Das Ego in uns allen hat nicht nur die Gegenwart dieses Lieds verlassen, sondern versucht auch mithilfe seiner verschiedenen und quasi unendlichen besonderen Beziehungen, seinem sanften Ruf so fern wie möglich zu bleiben.

Wenn wir den Schmerz, den lieblichen Klängen der Liebe so fern zu sein, nicht mehr aushalten, richten wir an jemanden – wir wissen nicht wen – den Ruf, dass es einen besseren Weg geben muss (T-2.III.3:5-6). Die Antwort des Heiligen Geistes besteht darin, dass er dieselbe Besonderheit, durch die die Liebe vermieden werden sollte, als Mittel für unsere Rückkehr benutzt:

Wie unheilig der Grund auch immer sein mag, aus dem du sie [die besonderen Beziehungen] gemacht hast: ER kann sie in Heiligkeit übersetzen, indem er so viel Angst beseitigt, wie du ihn beseitigen lässt. Du kannst jede Beziehung seiner Obhut anvertrauen und sicher sein, dass sie nicht zu Schmerz führt, wenn du ihm deine Bereitwilligkeit anbietest, dass sie keinem Bedürfnis außer seinem dienen soll … Hab also keine Angst, deine eingebildeten Bedürfnisse loszulassen, die die Beziehung zerstören würden. Dein einziges Bedürfnis ist das seine (T-15.V.5:3-4, 7-8).

So werden unsere besonderen Beziehungen, wenn der Heilige Geist sie verwendet, zu unserer Schule, in der wir lernen, den vergessenen Gesang zu hören. Was ein Weg gewesen war, um uns von der Liebe zu entfernen, wird jetzt als bloßer Umweg betrachtet – als zwar indirekter Weg nach Hause, aber dennoch als sicherer Weg um dessentwillen, der mit uns geht.

Unsere besonderen Liebes- und Hassbeziehungen, die das Gerüst unserer Reise bilden, weisen uns den Weg, nicht um beurteilt und angegriffen, sondern um sanft akzeptiert zu werden, denn ohne sie wäre unser Weg verloren. Das ist die Bedeutung der folgenden Aussage im Textbuch:

Konzentriere dich nur darauf [deine Bereitwilligkeit], und lass es dich nicht stören, dass Schatten sie umgeben. Deshalb bist du gekommen. Wenn du ohne sie kommen könntest, bräuchtest du den heiligen Augenblick nicht … Das Wunder des heiligen Augenblicks liegt in deiner Bereitwilligkeit, ihn sein zu lassen, was er ist. Und in deiner Bereitwilligkeit dazu liegt auch dein Annehmen deiner selbst, so wie du gemeint warst (T-18.IV.2:4-6,8-9).

Doch damit wir uns so annehmen können, wie wir »gemeint waren«, müssen wir zuerst unsere Abwehr gegen dieses Selbst akzeptieren. So wird unser in Schatten gehülltes Egoselbst zum Lehrplan, mit dem Jesus uns lehrt, uns daran zu erinnern, wer wir wirklich sind.

Wer Heilung braucht, muss heilen … Wen sonst gibt es zu heilen? Und wer sonst braucht Heilung? Gott kennt keine Trennung. Was er weiß, ist nur, dass er einen einzigen Sohn hat … Der Vorgang, der in dieser Beziehung stattfindet, ist einer, bei dem der Therapeut dem Patienten in seinem Herzen sagt, dass alle seine Sünden ihm vergeben sind, zusammen mit den seinen. Was könnte der Unterschied zwischen Heilung und Vergebung sein? (P-2.VII.1:3,5-6,11-12; 3:1-2)

In jeder Beziehung und jedem Augenblick ist einer der beiden Partner vernünftiger als der andere. Es ist die Verantwortung des Vernünftigeren, den ersten Schritt zu machen, um die zugrunde liegende Melodie des Hilferufs zu hören und den anderen einzuladen, in das glückliche Lied der Dankbarkeit und des Friedens, das die Vergebung singt, mit einzustimmen:

Derjenige, der im Moment, in dem die Bedrohung wahrgenommen wird, vernünftiger ist, sollte sich daran erinnern, wie tief er beim andern in der Schuld steht und wie viel Dankbarkeit ihm gebührt, und sich freuen, dass er seine Schuld begleichen kann, indem er beiden Glück bringt. Er möge sich daran erinnern und sagen:

Ich möchte diesen heiligen Augenblick für mich, auf dass ich ihn mit meinem Bruder teilen möge, den ich liebe.
Es ist unmöglich, dass ich ihn haben könnte ohne ihn oder er ihn ohne mich …
So wähle ich denn diesen Augenblick als den, den ich dem Heiligen Geist anbiete, damit sich sein Segen auf uns senke und uns beide im Frieden erhalte (T-18.V.7:1-4,6, Kursive weggelassen).

Dasselbe gilt für den Therapeuten:

Der Psychotherapeut ist insofern Führer, als er dem Patienten um ein weniges vorangeht und ihm hilft, einige der Fallgruben auf dem Weg zu vermeiden, indem er sie als Erster sieht. Im Idealfall ist er auch ein Geführter, denn einer sollte ihm vorangehen, um ihm Licht zu geben, damit er sehe. Ohne diesen einen werden beide nur blind nach nirgendwo taumeln (P-2.III.1:1-3).

Wenn wir erkennen, dass wir auf die falsche Stimme und das falsche Lied hören, ist es an der Zeit, »zurückzutreten und ihm die Führung zu überlassen « (Ü-I.155), damit wir wahrhaft hören und zuhören können. Dann vernehmen wir die Hilferufe unseres Bruders hinter den Schatten des Missklangs und erkennen den Ruf nach Licht, der auch unser eigener ist, denn der Egonebel des Urteils hat keine Macht, das herrliche Licht der Vergebung zu verbergen:

Das Licht in ihnen leuchtet ebenso hell, ungeachtet der Dichte des Nebels, der es verschleiert. Wenn du dem Nebel keine Macht gibst, das Licht zu verschleiern, hat er auch keine … Du kannst dich für die ganze Sohnschaft daran erinnern … Die Heilung deines Bruders als die Heilung deiner selbst wahrzunehmen ist somit der Weg, dich an Gott zu erinnern … Und einem Bruder das zu geben, wonach er wirklich verlangt, bedeutet, es dir selbst zu schenken, denn dein Vater will, dass du deinen Bruder wie dich selbst erkennst. Antworte auf seinen Ruf nach Liebe, und du hast Antwort auf den deinen. Heilung ist die Liebe Christi zu seinem Vater und sich selbst (T-12.II.2:1-2,5,9; 3:4-6).

Der heilende Ruf des Heiligen Geistes kann ohne unser Zutun nicht gehört werden:

Doch braucht er eine Stimme, durch die er sein heiliges Wort sprechen kann, eine Hand, um seinen Sohn zu erreichen und sein Herz zu berühren (P-2.V.5:6).

Deshalb bittet uns Jesus, so mit anderen umzugehen, wie er mit uns umgeht. Wenn wir in den Angriffen anderer ihren verzweifelten Hilferuf vernehmen, wenn wir in ihrer Bösartigkeit den zugrunde liegenden Schmerz hören, werden wir dann nicht alle danach trachten, die Hand auszustrecken und die Quelle eines solchen Schmerzes mit »den sanften Händen der Vergebung« zu berühren, in dem Wissen, dass es unsere eigenen Ketten der Schuld sind, die wegfallen zusammen mit denen unserer Brüder (T-19.IV-C.2:5)? Wie Prospero, Shakespeares letzter Held, gegen Ende des Stücks Der Sturm sagt:

Obschon ihr Frevel tief ins Herz mir drang, Doch nehm ich gegen meine Wut Partei Mit meinem edlern Sinn: der Tugend Übung Ist höher als der Rache (V;1).

Jesus bittet uns, der »Tugend Übung« zu unternehmen und zu vergeben: zu vernehmen statt zu urteilen, zu hören statt anzugreifen, zu vergeben statt Rache zu üben. So wird das, was wir in Sünde, Schuld und Angst erdacht haben, verwandelt in Harmonien der Vergebung, Liebe und Heilung. Die Missklänge der Welt des Hasses machen den lieblichen Tönen der Musik Platz. Die Melodie der Liebe, die wir zunächst einander singen, verwandelt sich in das ewige Lied, das wir Gott immer gesungen haben. Und in der Schule unserer Beziehungen erstrahlt der sternenhelle Tempel unserer und unseres Bruders gemeinsamer Heilung:

Bedenke, was eine Verbindung zweier Brüder wirklich heißt. Und dann vergiss die Welt und all ihre kleinen Triumphe und ihre Todesträume. Die gleichen sind eins, und an nichts aus der Welt der Schuld können sie sich jetzt erinnern. Das Zimmer wird zu einem Tempel und die Straße eine Sternenflut, die an allen kranken Träumen sanft vorüberstreicht. Heilung ist vollbracht, denn was vollkommen ist, braucht keine Heilung, und was bleibt da noch, dem vergeben werden müsste, wo es keine Sünde gibt? (P-2.VII.8)

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